Rundbrief 12.12.2023

Liebe Freundinnen und Freunde von NeSTU


Die Adventszeit wird dieses Jahr in der Ukraine von einem schönen Wintereinbruch begleitet, worüber sich besonders die Kinder freuen. Um Kinder und Jugendliche in der Ukraine, und Initiativen zu deren Gunsten, geht es auch in diesem Rundbrief. NeSTU unterstützt verschiedene Projekte in der Ukraine, die sich in der Rehabilitierung der vom Krieg gezeichneten jungen Menschen engagieren. Mariya Surzhenko und Marharyta Kurbanova organisieren in Nyzhne Selyshche und hoch oben in den Karpaten Art-Camps. Wir haben mit ihnen über ihre Motivation und ihre Erfahrungen gesprochen, das vollständige Gespräch ist hier auf unserer Website zu finden. 

Die Tournee des Kammerchores Cantus ist vorbei und diesmal dürfen wir getrost sagen, es war toll. Das Organisationsteam ist erschöpft aber glücklich. Auch von den Chorsängerinnen und -sängern haben wir sehr positive Rückmeldungen bekommen. Andreas Müller-Crepon, bekannt als jahrzehntelanger Redaktor bei Radio DRS, hat für uns in dankenswerter Weise seine Eindrücke vom letzten Konzert der Tournee in Andelfingen schön zusammengefasst. Im kommenden Rundbrief veröffentlichen wir ein Interview von Monika Fischer (frühere Präsidentin von NeSTU) mit den beiden Hauptverantwortlichen der Tournee, Ursula Stamm und Krisztina Szakacs.
Eines der Konzerte wurde gefilmt und wir warten gespannt auf das Video. Als Vorgeschmack hier ein Ausschnitt auf Youtube.

Die Ukraine befindet sich im zweiten Kriegswinter. Für diejenigen, die nicht müde sind, davon zu hören und zu lesen, kommen in diesem Rundbrief ein paar persönliche Einschätzungen. Wir hätten natürlich auch gerne, dass der Krieg uns vergisst. Heute Morgen haben russische Hacker den grössten ukrainischen Mobilfunkanbieter im gesamten Land lahmgelegt, die Reparaturarbeiten werden unbestimmte Zeit in Anspruch nehmen. 

Drei Ankündigungen:
Fr 8. und Sa 9. März 2024 laden wir zum Workshop für traditionellen Gesang der Ukraine mit Anna Ochrimtschuk in Winterthur. Der Flyer ist hier. Die Anzahl der Teilnehmenden ist auf 15 Personen begrenzt!
Sa 16. März 2024 nachmittags, die Jahresversammlung von NeSTU in Luzern, Details kommen im nächsten Rundbrief.
Die Hudaki Village Band kommt im Frühjahr in die Schweiz. Es gibt noch freie Termine Anfang März und Anfang Juni. 
Redaktion: Jürgen Kräftner, NeSTU-Ukraine

Jugendliche zeichnen im Krieg
Dieses Selbstportrait des 15jährigen Stas (Stanislaw) aus der Region Mykolajiw ist Teil einer Grusskartenserie, die derzeit in Kyiv für NeSTU gedruckt und hoffentlich schon bald bei unserer Geschäftsstelle erhältlich sein wird. Stas hat an einem der Jugendlager von Base_UA in den Karpaten teilgenommen, mehr dazu im Interview mit Marharyta Kurbanova und Mariya Surzhenko weiter unten. 

NeSTU unterstützt die Art-Camps von Base_UA und weitere Initiativen, die Kindern und Jugendlichen in der Ukraine helfen, mit ihren Kriegstraumata zurechtzukommen. Dafür sind wir weiterhin auf Ihre finanzielle Unterstützung angewiesen und danken ganz herzlich für jede Spende!

Spendenkonto NeSTU:

Raiffeisenbank Nidwalden, 6370 Stans
IBAN: CH69 8080 8008 0940 4940 2


Klang des Himmels, Stimmen der Erde: Abschied in Andelfingen

Eindrücke vom Schlusskonzert der CANTUS-Tournee
Die Schlange am Kircheneingang lässt vermuten, dass manche Fans des Kammerchors aus Uzhhorod ihren Konzertbesuch bis zum letzten Termin aufgespart haben. Jedenfalls lauscht eine volle Kirche den ernsten, klaren Worten von Lesja Levko, die auch die kurze Begrüssung von Emil Sokach übersetzt. Er macht klar: nichts kann so deutlich vom Leben und den Gefühlen der Menschen in der Ukraine erzählen wie diese Musik. Sein Programm löst das Versprechen ein, es umspannt geistliche, wie auch von der Volkskunst inspirierte Werke. Schlicht und mit zunehmender Kraft setzt Mykola Lysenkos Gebet für die Ukraine den Anfang, und schon mit dem Beginn des nächsten Stücks zeigt der Chor, was ein mystisches Pianissimo an Stimmung auslösen kann. Romantische und gemässigt moderne Tonsprache im Wechsel machen das Konzert zu einer Reise durch ganz unterschiedliche poetische Welten, von der Volkslied-inspirierten Sehnsucht aus Lesja Dychko’s Kantate „Roter Schneeball“ über ein sprachspielerisches, frisches Schnitterlied bis zu Taras Schevchenko’s schmerzlichem Heimweh bei Sonnenuntergang. Die Komponistin Bohdana Frolyak hat daraus eine ergreifende Elegie gestaltet, die ganz auf sentimentale Töne verzichtet und grosse Gestaltungskraft erfordert. Kein Problem für CANTUS, scheinbar. Genauso die Kulmination des Konzerts im vorletzten Stück, einer Psalmenvertonung von Viktoria Poleva, die Emil Sokach vom nachdenklichen, klagenden Beginn über ein schier endloses, meisterhaft gebändigtes Crescendo zum Notschrei voller Bitterkeit zu steigern weiss. „Herr, wie zahlreich sind meine Feinde“ - die Worte hallen nach, auch als die unendlich zarten Klangschattierungen von Valentin Silvestrov’s Gebet für die Ukraine den Bogen schliessen. Trotz aller Widrigkeiten bei der Vorbereitung der Tournee hat CANTUS auch diesmal Maßstäbe gesetzt, was den Chorklang und die Gestaltung angeht - dass aus dem Kammerchor immer wieder einzelne Solostimmen hervortreten und emotionale wie stimmliche Glanzlichter aufsetzen, überrascht da nicht wirklich. Klang des Himmels, Stimmen der Erde - ein Programm, dass es wert wäre, auch auf Tonträgern oder als Streaming-Angebot sein Publikum zu finden. Es besteht Suchtgefahr.
Andreas Müller-Crepon

Foto: Der Kammerchor Cantus beim Einsingen und Erproben der Akustik in der Kulturkirche Paulus in Basel



Alles stehen und liegen lassen, um Jugendlager in der Ukraine zu organisieren: Marharyta und Mariya von Base_UA
Ein Interview mit zwei jungen Frauen aus Donezk, die seit Sommer 2022 in den ukrainischen Karpaten Art-Camps für Kriegskinder organisieren. NeSTU unterstützt die Art-Camps der NGO Base_UA, die nach Kriegsbeginn von einigen Freiwilligen gegründet wurde. 
Dies ist nur der Beginn des Interviews. Der gesamte Text mit weiteren Fotos ist auf der Website von NeSTU zu finden.
Die in Berlin lebende ukrainische Schriftstellerin Katja Petrowskaja hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eindrücklich ihre Begegnung mit Marharyta Kurbanova geschildert, hier als PDF nachzulesen.

Foto: Marharyta (Margo), links mit dem Fotoapparat, rechts von ihr Mariya (Mascha).

Jürgen Kräftner: Wie kam es dazu, dass Ihr beide seit Kriegsbeginn in der Ukraine schon sieben Jugendlager organisiert habt?
Marharyta Kurbanova: Ich stamme aus der Stadt Donezk, seit 2014 ist sie von Russland besetzt. Von 2012 bis 2017 habe ich an der Kiever Hochschule für Kunst Karpenko-Kary studiert, anschliessend bin ich nach Deutschland gegangen und studiere seither an der Filmhochschule Babelsberg in Potsdam.

Unmittelbar nach dem Einmarsch der russischen Truppen im Februar 2022 haben wir mit meinem Mann Anton damit begonnen, Menschen in der Ukraine bei der Flucht zu helfen, humanitäre Hilfe zu verteilen, einfach das zu tun, was die Leute damals am dringendsten brauchten. Anton hat schon bald seinen Jugendfreund Mischa wiedergefunden, dann kam noch Patrick von der Organisation LeaveNoOneBehind dazu. Gemeinsam haben sie beschlossen, eine NGO zu gründen und haben ihr den Namen Base_UA gegeben. Mein Job war damals, diese Arbeit mit kurzen Videos zu dokumentieren. Einmal, als wir Leuten in Lissitschansk (Oblast Luhansk) bei der Flucht geholfen haben, das war im Juni 2022, bin ich einem zwölfjährigen Mädchen begegnet. Sie kam jeden Tag mit ihrem Hund zu unserem Stützpunkt, wo humanitäre Hilfe verteilt wurde. Von dort wurden auch die fluchtwilligen Menschen abgeholt. Sie kam ganz allein, und wir haben begonnen miteinander zu spielen und sprachen über das Leben in dieser Geisterstadt. Dort gab es damals schon keine Telefonverbindung mehr, Strom- und Wasserversorgung waren auch zusammengebrochen. Es gab auch keine Läden mit Lebensmitteln mehr. Alles war zerbombt. Und ich fragte sie, wie es denn kam, dass sie ganz alleine durch diese Stadt lief. Sie kam zu unserem Stützpunkt um mit den Kindern zu spielen, die dort im Keller lebten. Wir sind dann unter Artilleriebeschuss geraten. Wir waren in unserem Stützpunkt und es gab einen direkten Beschuss. Alle Leute, die sich dort aufhielten, waren sehr erschrocken, und Mascha, so hiess dieses Mädchen, auch. Sie hat sich an meine Hand geklammert und hat mich gebeten, dass wir sie aus der Stadt wegbringen. Ich habe begriffen, dass das eine Kindesentführung ist, und dass wir diese Verantwortung nicht tragen können. Ich war damals in Begleitung eines  Notfallsanitäters, Kevin, und gemeinsam haben wir beschlossen noch eine Woche in dem Stützpunkt zu bleiben und das Mädchen dann mitzunehmen. Denn nachdem es schon einen Beschuss gegeben hatte, war klar, dass weitere folgen würden. Wir würden es uns nicht verzeihen, wenn Mascha beim nächsten Beschuss ums Leben käme. Wir bringen sie weg, und falls die Mutter mit der Flucht nicht einverstanden wäre, könnten wir sie immer noch zurückbringen. Wir haben unsere mobile Einsatzgruppe, die in der Stadt Lebensmittel verteilte, über unseren internen Funkverkehr gebeten, der Mutter mitzuteilen, dass wir Mascha mitgenommen hätten und dass es ihr gut ginge. Und dass wir dem Rest der Familie auch bei der Flucht helfen könnten. 
 

Aber die Mutter hat gesagt, gebt mir mein Kind zurück und wir mussten Anwälte einschalten. Sie wollte nicht flüchten, denn sie hatte noch ein kleines Kind, das behindert war. Die Polizei sagte uns, ihr müsst Mascha zurückbringen, und die Soldaten sagten «tut das nicht», denn die Stadt wird bald von Russen besetzt. Am Ende hat Mascha ihre Mutter zur Flucht überreden können. Jetzt leben sie gemeinsam in einem Dorf in der Nähe von Lviv und wir sind regelmässig in Kontakt. 

Nach diesem Erlebnis mit Mascha sind wurde uns klar, dass wir uns gezielt für Kriegskinder einsetzen wollen, und die erste Idee war, Art-Camps zu organisieren. Das lag auf der Hand, denn sowohl mein Mann Anton als auch ich sind Filmemacher und Kunst ist für uns wichtig. 

Das war noch im Juni 2022. Ich habe dann gleich meine beste Freundin Mariya angerufen, wir kennen uns seit der 7. Schulklasse. Mariya ist Pädagogin. Ich fühlte, dass wir beide als Tandem für dieses Projekt prädestiniert waren. Sie war einverstanden und so haben wir gemeinsam überlegt, wie ein ideale Jugendlager ablaufen würde, an dem wir selber in diesem Alter gerne teilgenommen hätten.
Der Rest des Interviews mit weiteren Fotos ist hier zu finden


Ein paar Gedanken nach bald 20 Monaten Krieg

Fotos oben und unten: Die Stadt Maryinka, 30 km westlich von Donezk, in Aufnahmen von 2014 und 2023. 2019 lebten hier noch knapp 10'000 Einwohner. 


Schon im vergangenen Sommer und spätestens im Herbst mussten wir uns mit der schrecklichen Vorstellung abfinden, dass dieser Krieg noch lange andauern wird, wahrscheinlich Jahre. Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, Waleri Saluschny (er ist in der Ukraine sehr beliebt), gab in einem Interview im Oktober zu, dass er die russische Hartnäckigkeit unterschätzt habe, grenzenlos Infanteriesoldaten in Angriffen zu opfern, die hiezulande als "Fleischangriffe" bezeichnet werden. Die Verluste an Menschenleben sind enorm, aber das scheint keine Rolle zu spielen. In der Nähe der Stadt Awdijiwka, unweit von Donezk, sollen die Russen im Oktober und November täglich mehr als tausend Mann verloren haben. Neben Schwerverbrechern, die aus den Gefängnissen an die Front gebracht und nach sechs Monaten Kriegsdienst begnadigt werden, gibt es auch eine unerschöpfliche Zahl armer Kerle aus entfernten russischen Provinzen, die davon träumen, ihre Schulden mit dem Sold der Armee zu begleichen. Für viele von ihnen erweist sich diese Entscheidung als fatal. Ich glaube, dass Saluschny mit diesem Interview vor allem seine Soldaten vor dem verantwortungslosen Wunschdenken von Politikern und Medien sowohl in der Ukraine als auch im Ausland schützen wollte. Die Erwartungen an die "große Gegenoffensive" waren offensichtlich zu hoch und ignorierten die Tatsache, dass sich die Russen bereits seit fast einem Jahr auf sie vorbereiteten.
Es ist leider weiterhin so, dass die westlichen Alliierten der Ukraine gerade soviel geben, dass sie nicht aufgeben muss, aber nicht genug, um die Russen in absehbarer Zeit aus den besetzten Gebieten zu vertreiben. Und während alle Augen auf den Nahen Osten gewandt sind, sterben bei uns weiter jeden Tag Menschen an der Front und unter dem Raketenbeschuss auch weit im Hinterland.

Hier der Link zum Interview mit Saluschny im Economist (auf Englisch)

10 Jahre nach dem Maidan
In diesen Tagen erinnern wir uns in der Ukraine an den Beginn des Maidan vor zehn Jahren. Dieser dreimonatige Aufstand war das grosse (und schmerzhafte) Aufwachen der ukrainische Gesellschaft, ein kollektiver Bewusstseinswandel. Am Ende floh der Präsident-Diktator nach Russland; dieses besetzte daraufhin die Krim und begann  den Krieg im Donbas. Wer den Maidan in seiner ganzen Komplexität nicht versteht, kann auch den heutigen Krieg nicht verstehen. Die Schwierigkeit für uns Westeuropäer besteht darin, dass diese Komplexität alle Schemas sprengt, nach denen wir die jüngere Geschichte der Einfachheit halber gerne betrachten.
Ich habe Freunde, die weiterhin davon überzeugt sind, dass der ukrainische Nationalismus die Ursache für alle Probleme in unserem Teil der Welt ist.

Diejenigen unter uns (hier in der Ukraine), die die westlichen Medien verfolgen, hören natürlich die Stimmen, die zu Verhandlungen aufrufen. Doch ohne die Befreiung der besetzten Gebiete ist so ein Vorschlag höchstens ein Achselzucken wert. Sollte die Unterstützung des Westens deutlich abnehmen (z.B. nach einer Wiederwahl von Donald Trump), wird dies wahrscheinlich zu einem faulen Waffenstillstand wie während der Besetzung des Donbas von 2016 bis 2022 führen, aber nicht zu einem Frieden. Dieser wird noch mehr Leid für die Zivilbevölkerung mit sich bringen, die besetzten Gebiete werden sich noch mehr in rechts- und gesetzlose Territorien verwandeln, in denen die Bevölkerung der Willkür von Kriminellen ausgeliefert sein wird, so wie es im besetzten Donbas schon seit 2014 ist. Der russische Staatshaushalt sieht für 2024 Ausgaben für die Armee von über 100 Milliarden Franken vor, ein Drittel des Gesamtbudgets. Was eine weitere Kapitulation der demokratischen Länder vor der brachialen Gewalt eines mittelalterlichen Kriegsherren in anderen Teilen der Welt bedeuten könnte, darüber will ich hier nicht spekulieren.

Das Schwarze Meer
Ist Euch aufgefallen, dass kaum noch jemand über eine Hungersnot in Afrika spricht, die durch den Stopp der Getreideexporte der Ukraine verursacht werden könnte, und dass auch das Getreideabkommen mit Russland kein Thema mehr ist? Dafür gibt es mehrere Gründe. Ein Hauptgrund ist, dass die ukrainische Armee der russischen Marine in den letzten Monaten so grosse Verluste zugefügt hat, dass diese das Schwarze Meer nicht mehr kontrolliert, zumindest nicht die Gebiete in der Nähe der rumänischen und bulgarischen Küste. Das ist für unsere südlichen Regionen (Odessa, Mykolajiw) und sogar die gesamte Ukraine sehr wichtig, da die russische Marine die Fähigkeit verloren hat, Raketen aus dem Schwarzen Meer abzufeuern. Und für den Getreideexport ist es sehr wichtig, da nun ein Schifffahrtskorridor nahe der rumänischen und bulgarischen Küste gesichert wurde und Handelsschiffe wieder ukrainischen Weizen und Mais über den Bosporus auf den Weltmarkt transportieren können. Dennoch soll demnächst auch in Transkarpatien ein Getreideterminal gebaut werden, um den Landtransport effizienter zu gestalten. Vor ein paar Wochen fuhr ein Getreideschiff im Schwarzen Meer auf eine Mine, was die Versicherungsprämien sprunghaft ansteigen ließ, und das hat natürlich Auswirkungen auf die Getreidepreise.
Gleichzeitig sieht man an der Grenze zu Rumänien lange Schlangen von Lastwagen, die mit Agrarprodukten beladen sind.

Ein langer Krieg
Natürlich wollte anfangs niemand an einen langen Krieg denken, eigentlich wollten wir überhaupt nicht an Krieg denken. Nach der Ausrüstung und den Vorräten zu urteilen, die die russischen Elitetruppen beim Vormarsch auf Kyiw mit sich führten, dachten Putin und seine Handlanger, dass sie die ukrainische Regierung nach wenigen Tagen durch ein Marionettenregime ersetzen würden. Umgekehrt würde ich das, was nach dem 24. Februar 2022 in unseren Köpfen vorging, nicht als "Denken" bezeichnen. Die Männer und Frauen, die sich Ende Februar 2022 freiwillig zur Armee meldeten, dachten auf keinen Fall daran, auch fast zwei Jahre später noch an der Front zu stehen. Viele von ihnen starben oder wurden verstümmelt, andere wurden von den Russen inhaftiert. Wir machen uns grosse Sorgen um unseren Freund Maksym Butkevych, einen Menschenrechtsverteidiger, der seit mehr als 17 Monaten in Kriegsgefangenschaft ist. Nachdem er im August vor dem Berufungsgericht stand, verschwand er monatelang. Vor ein paar Tagen erhielt sein Anwalt endlich den Bescheid, dass Maksym in ein Gefängnis in einem Provinzort von Luhansk überstellt wurde, gerade gestern konnte er sogar mit ihm sprechen.
Es gibt Tausende ukrainische Kriegsgefangene. Seit Beginn des Krieges wurden 2000 von ihnen ausgetauscht, aber seit dem Sommer gab es keinen Austausch mehr. Diejenigen, die freigelassen wurden, berichten von Misshandlungen, Folter und einem Mangel an allem. Laut dem ukrainischen Ombudsman wurden 28'000 ukrainische Zivilpersonen ebenfalls nach Russland verschleppt.

Andere Realitäten
Es gibt auch die anderen, diejenigen, die sich nicht vorstellen konnten, ein liberales Gesellschaftsmodell, die Freiheit oder ganz einfach den Ort, an dem ihre Familien leben und Vorfahren lebten, zu verteidigen. Die Dörfer in Transkarpatien sind von ihrer männlichen Bevölkerung entleert. In dieser Region mit ihrer langen Tradition der saisonalen Migration hatten viele den Braten gerochen und waren vor dem Krieg in eines der Nachbarländer ausgereist, in denen es chronisch an Arbeitskräften mangelt. Im Laufe der Monate liessen viele von ihnen ihre Familien nachkommen und machten von der Möglichkeit Gebrauch, dass das Aufenthaltsrecht für Ukrainer während des Krieges vereinfacht wurde. Viele «einfachere» Menschen können sich aber auch nicht vorstellen, in einem fremden Land zu leben, und machen daher nach dem traditionellen Muster weiter: Die Männer arbeiten im Ausland, die Frauen besuchen sie ab und zu und bringen etwas Geld nach Hause. Aber auch hier hat niemand damit gerechnet, dass der Krieg jahrelang dauern wird. Die Männer wollen nicht zurückkehren, da sie in die Armee eingezogen werden, sobald sie an der Grenze auftauchen. Der soziale Preis dieser erzwungenen Emigration und der Trennungen ist zwangsläufig sehr hoch. 
Auch im zweiten Jahr des Krieges haben sich viele Männer mit allen möglichen Tricks aus dem Staub gemacht. Meinem subjektiven Eindruck nach ist es eher die Sache von Männern aus anderen Regionen, Tausende von Euro an Schlepper oder korrupte Grenzbeamte zu zahlen, während die Männer hier fast immer einen Weg mit geringerem Risiko finden.
Es ist schwer, sich vorzustellen, welche Folgen das alles für unsere Region hat. Werden die Flüchtlinge aus dem Osten hier bleiben, und vor allem welche von ihnen? Als ich kürzlich durch Uzhhorod fuhr, war ich sanft schockiert über all die Teslas und die neuen Luxusboutiquen. Die Mieten haben sich verdoppelt. Soziologische Studien belegen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich seit Beginn des Krieges in der gesamten Ukraine stark zugenommen hat. 
Eine andere Seite der Migration: Unsere direkten Nachbarn sind in die Slowakei gezogen, der Ehemann vor dem Krieg zum Arbeiten, seine Frau und ihr 13jähriger Sohn seit einem Jahr. Sie leiden unter dem anti-ukrainischen Rassismus der Slowaken und wollen so schnell wie möglich zurückkehren. Der Junge, der sehr nett und gesellig ist, hat in einem Jahr keine Freunde unter seinen Klassenkameraden gefunden und leidet stattdessen unter Mobbing aufgrund seiner Herkunft.

Zurück zum Winter
Die russische Armee bombardiert die ukrainischen Städte jeden Tag und vor allem jede Nacht. Die Alarmsirenen heulen jeden Tag, auch in unserer Region. Der Unterschied besteht darin, dass in Städten wie Cherson, Saporischschja und vielen anderen die Einschläge, Zerstörungen, Toten und Verletzten ebenfalls täglich sind, während wir verschont bleiben. In einem Dorf im Nordosten wurden im Oktober über 50 Zivilisten während einer Beerdigung getötet. Seit einigen Monaten beobachten wir jedoch, dass die Russen vor allem iranische Drohnen für ihre Angriffe verwenden. Die viel teureren Raketen setzen sie nicht ein, deren Anzahl und die Produktionskapazitäten sind begrenzt. Es gibt eine durchaus plausible Befürchtung, dass dies eine strategische Entscheidung ist (Schätzungen zufolge besitzen die Russen derzeit fast 900 ballistische Raketen aller Art), um massive Angriffe auf die Energieinfrastruktur zu starten, sobald die Kälte kommt. Diesmal wird es für niemanden eine Überraschung sein. Bei uns in Transkarpatien wurden die Schulen angewiesen, die Warnungen bloss nicht zu ignorieren, denn Geheimdienstberichten zufolge soll unsere Region dieses Mal nicht verschont bleiben.

 

Foto oben: Oleksandr Glyadyelov, Region Cherson kurz nach der Befreiung im Dezember 2022

Was mir sonst so aufgefallen ist
Hier, völlig chaotisch, verschiedene Fakten und subjektive Eindrücke
Die Familienmitglieder einiger Soldaten protestieren öffentlich und fordern ihre Demobilisierung nach bald zwei Jahren an der Front. Das hat nichts mit Kapitulation zu tun, eher mit einer gerechten Verteilung der Kriegslast. Die Aushebung neuer Soldaten wird immer schwieriger, immer wieder kommt es zu Übergriffen der Feldjäger, entsprechende Videos werden in den sozialen Medien rasch verbreitet.
Eine Freundin (eigentlich ein Familienmitglied) kehrte aus Tschechien zurück, wo sie sich in einer Fabrik ausgebeutet fühlte, und fand zu Hause (in der Nähe von Rivne, im Nordwesten der Ukraine) einen gut bezahlten Job in einem neuen Unternehmen, das Artilleriegeschosse herstellt. Das ist natürlich jetzt ein Produkt, das voll im Trend liegt. Ein anderer Freund, der uns beim Unterhalt unsere Maschinen für die Apfelsaftproduktion hilft, stellt an seinen Wochenenden Drohnen aus Karton her, die für Radargeräte unsichtbar sind und lautlos Sprengstoff über 30 km transportieren (wenn alles gut geht).
Und auch eine unserer Realitäten: Seit Beginn des Jahres 2023 wurde in der Ukraine eine Rekordzahl kleiner Privatunternehmen gegründet. Überraschenderweise wächst auch die Wirtschaft mehr als prognostiziert, 6 anstelle der erwarteten 4 Prozent. Viele Unternehmen sind aus den Kriegsgebieten in die Zentral- und Westukraine geflüchtet und haben sich besser als erwartet zurechtgefunden.

Der Staatshaushalt für 2024 wurde von der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, verabschiedet. Fast 50 % der Mittel werden für die Kosten des Krieges, der Armee und der Rüstung aufgewendet. Es ist kein Strassenbau vorgesehen, das war Zelenskys Lieblingsprojekt vor dem Krieg. Es stimmt, dass es dadurch schwierig wird, bestimmte Strecken als "Strasse" zu bezeichnen, da man für eine Fahrt von einem Dorf ins andere oft die dreifache Zeit benötigt.

Der Kampf gegen Korruption geht auch während des Krieges weiter und ich würde sagen, dass er allmählich an Schwung gewinnt. Ende November wurde der Leiter des staatlichen Komitees für die Digitalisierung der Armee verhaftet, gemeinsam mit einem Komplizen sollen sie fast 1,5 Millionen Euro gestohlen und gleichzeitig die Digitalisierung stark gebremst haben. Wie viele Tote sie auf dem Gewissen haben, bleibt unberechenbar. Es ist jedoch festzustellen, dass wieder einmal Personen, die dem innersten Machtzirkel in Kyiv sehr nahe stehen, inhaftiert wurden, und ja, das ist ein gutes Zeichen.

Zum Eine etwas überraschende Kurzmeldung: Im Norden der Ukraine (Region Sumy) gibt es einen inoffiziellen Übergang zwischen Russland und der Ukraine, der es Ukrainerinnen und Ukrainern aus den besetzten Gebieten ermöglicht, in die Ukraine zurückzukehren, siehe den Artikel in der NYT:
https://www.nytimes.com/2023/11/16/world/europe/russia-ukraine-war-border-crossing.html

Eines der seriösesten Medien in der Ukraine hat sich mit der Demografie während und nach dem Krieg befasst (auf Englisch):
https://zn.ua/eng/birth-rate-in-ukraine-what-has-changed-and-what-will-change-after-the-victory.html

Und auch auf Englisch, das Gespräch des unersetzlichen Historikers Timothy Snyder (u.a. Autor von Bloodlands) mit unserer Freundin Nataliya Gumenyuk über alle brennenden Fragen rund um die Ukraine, als Podcast:
https://soundcloud.com/laboratoriya-19057531/snayder-pro-fashistsku-rosyu-genotsid-yaderniy-blef-kremlya-ta-ukranske-rozumnnya-svobodi

In die Ukraine reisen
Seit ein paar Tagen wurde es einfacher, zu uns zu kommen. Die ukrainischen Eisenbahnen profitieren offensichtlich von der Tatsache, dass die zivile Luftfahrt seit Beginn des Krieges stillsteht, und so gibt es seit vergangener Woche mehrere neue Verbindungen mit dem Westen: Direkte Züge von Kyiv - Chop - Wien und Chop - Prag. Der Grenzübertritt mit dem Zug ist hundertmal angenehmer und einfacher als mit dem Auto, wo man immer der Willkür der ungarischen und slowakischen Zollbeamten ausgeliefert ist. 
 

Kontakt zu NeSTU:

Salome Stalder - Martin, Dipl Forst-Ing. ETH, Mürgstrasse 6, 6370 Stans

E-Mail: info(at)nestu.org. Natel: 078 770 23 43
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Jürgen Kräftner