Rundbrief 29.10.2024

Link zum Rundbrief

Liebe Freundinnen und Freunde von NeSTU

979 Tage Krieg sind eine Ewigkeit. Im vergangenen September hat die russische Armee erstmal ohne Unterbrechung jede Nacht grosse, todbringende iranische Kampfdrohnen Shahed auf die Ukraine losgelassen, insgesamt 1339 Stück. Alleine in der Nacht vom vergangenen Sonntag auf Montag waren es genau 100 Drohnen. Auch die Kämpfe im Osten und Nordosten der Ukraine haben sich intensiviert und viele Menschen müssen fliehen. In Cherson im Süden der Ukraine machen kleine Kampfdrohnen systematisch Jagd auf Zivilisten ohne Unterschied, fast täglich gibt es Opfer zu beklagen. Das moskauer Regime setzt dabei auf die Zermürbung der ukrainischen Bevölkerung und ihrer Verbündeten, je nach Blickwinkel scheint diese Rechnung aufzugehen. 

Angekommen an diesem Punkt lohnt es sich, etwas genauer hinzusehen, darum geht es in diesem Rundbrief.
Auf Vermittlung von Hanna Nahorna von der NGO Mental Recovery waren wir im September mit Hudaki in Charkiw und haben für Geflüchtete in einem Lager südlich der Grossstadt ein kleines Sonntagskonzert gegeben. Eine Gruppe von Freiwilligen unter der Leitung eines russisch-orthodoxen Diakons(!) hat dort eine ehemalige Schweinefarm zu einer sympathischen Siedlung für Geflüchtete aus der Region und aus Mariupol umgebaut. Natürlich spürt man, dass diese Menschen schwer an ihren Schicksalen zu tragen haben. Dennoch herrscht hier, nur wenige dutzend Kilometer von der Front, eine friedliche und überaus freundschaftliche Stimmung. Ein paar Fotos von dieser Reise, auch von unserem Auftritt an einem grossen Solidaritätskonzert in Kyiv, sind weiter unten zu sehen. Immer wieder lohnt es sich, weit ins Land und auch in den Osten der Ukraine zu fahren, den Menschen in die Augen zu sehen und mit ihnen zu sprechen. Kapitulation ist jedenfalls kein Thema. Auch an grossen Anlässen in Kyiv und in Lwiw entsteht, natürlich völlig subjektiv, der Eindruck einer vielschichtigen Stimmung. Die Menschen suchen sich vom Stress zu erholen, sie wollen leben und einfache Dinge geniessen, wir spüren viel mehr Respekt im öffentlichen Raum, eine gewisse Trauer und vor allem Frauen, die offenbar Angehörige verloren haben und in Schwarz gekleidet sind, aber wenn wir dann musizieren, leuchten die Augen und es wird ausgelassen getanzt.

 


In Transkarpatien
Unser Gebiet liegt im äussersten Westen der Ukraine und ist vor den russischen Horden durch die Karpaten geographisch geschützt. Daher gilt es nicht ganz zu Unrecht als eine Art friedliche Insel. Wir hatten keine nennenswerten Schäden durch Raketenbeschuss und der tägliche Sirenenalarm wird hier von fast allen ignoriert, nur die Schulkinder müssen jeweils in den Keller übersiedeln. Andererseits ist dies eine sehr oberflächliche Betrachtung. Das Foto oben stammt vom Friedhof von Chust. Die Fahnen zeugen davon, dass hier Soldaten begraben sind. Die Gräber im Vordergrund sind frisch und eine weitere Parzelle wird gerade vorbereitet. In allen kleinen und grösseren Städten wurden zentrale Gedenkstätten eingerichtet, wo vor grossformatigen und gut sichtbaren Fotos der gefallenen einheimischen Soldaten und Soldatinnen Blumensträusse deponiert werden. 
Und leider hat der Krieg auch bei uns noch viele andere, schreckliche Konsequenzen. Viele Männer wollen nicht einrücken, manche leben in einer panischen Angst vor der omnipräsenten Militärpolizei. Sie verstecken sich, oder versuchen, sich irgendwie der Mobilisierung zu entziehen. Das kostet sehr viel Geld, und so manch einer bezahlt mit dem Leben. 


Ausserdem in diesem Rundbrief:

  • Einfrieren des Kriegs? Der aus Sewastopol auf der Krim stammende Politikwissenschafter Anton Schechowzow schreibt, was er von einem Einfrieren des Kriegs und gleichzeitigem NATO-Beitritt der Ukraine hält und wie die Reaktion der Ukrainer und Ukrainerinnen auf den Krieg zu deuten ist.

  • Video: Der dänische Militärexperte Anders Puck Nielsen erklärt in seiner 12minütigen Video schlüssig, warum er davon ausgeht, dass Russland den Krieg in der Ukraine nicht länger als bis Ende 2025 führen kann. (Tipp: in den Einstellungen bei Youtube ist es einfach, die Untertitel in der gewünschten Sprache einzublenden).

  • Die reichen Rohstoffvorräte der Ukraine sind ein häufig ignorierter Faktor im Krieg. Die "Länderanalysen Ukraine" haben dazu eine wertvollen Überblick publiziert. Dies ist umso interessanter, als diese strategisch wichtigen Vorkommen einen wichtigen Platz im sogenannten Siegesplan einnehmen, den Präsident Zelenskiy kürzlich vorgestellt hat. Der Bericht der Länderanalysen ist hier online zu finden.

  • Erfreuliches von Svydovets:  Nach sieben Jahren Rechtsstreit hat der Oberste Gerichtshof der Ukraine am 9. Oktober 2024 die Genehmigungen für die Verbauung des Svydovets-Massivs für illegal erklärt und sie annuliert. Dies ist ein wegweisendes Urteil und ein sehr erfreuliches Lebenszeichen einer unabhängigen Rechtssprechung in der Ukraine. Was aus den beiden weiteren, erst 2022 bekannt gewordenen und ebenfalls riesigen Tourismusprojekten nördlich des Svydovets-Massivs wird, ist derzeit unbekannt, aber die Investoren werden sich sicher nicht einfach geschlagen geben. Wir danken Allen, die diesen langen Kampf unterstützt haben!


Veranstaltungs- und Lesetipps: 
Jugendchorkonzerte: Zwei Konzerte mit bekannten ukrainischen Jugendchören in Adligenswil und Reussbühl am 9. und 10. November. Der Flyer

Filmveranstaltungen Longo mai: Die Kooperative Longo mai hat in Nyzhne Selyshche seit Kriegsbeginn sukzessive Infrastruktur, Wohnraum und auch Gewerbe für Geflüchtete geschaffen. Darüber ist ein Dokumentarfilm gedreht worden, der ab dem 29. Oktober an zahlreichen Orten in der Schweiz gezeigt wird. Die Daten 
Am Anlass am Sonntag, 3. November in Ruswil ist auch NeSTU aktiv beteiligt.

Und bitte vormerken: Am Samstag, 5. April 2024 findet in Luzern die Jahresversammlung von NeSTU statt. Wir erwarten Gäste aus der Ukraine.

Vom CAMZ in Uzhhorod kommt folgender Lesetipp: Pavlo Kazarin, Der wilde Westen Osteuropas, Der ukrainische Weg aus dem Imperium
Die Ukraine ist das neue »West-Berlin« Ost-Europas. Die Annexion der Krim und die russische Invasion im Donbas zwangen Kyjiw zu rasantem Wandel. Vor zehn Jahren war die Ukraine noch ein postsowjetisches Land mit gespaltener Identität – heute ist sie ein Vorposten Europas, der nun bereits das dritte Jahr in Folge dem Ansturm der russischen Armee trotzt. Der Wilde Westen Ost-Europas ist ein Buch darüber, wie diese Transformation möglich wurde.

Weihnachtsgeschenke von NeSTU
NeSTU hat schön gestaltete Grusskarten mit Selbstporträts von Kriegskindern gedruckt. Sie können diese Karten bei der Geschäftsstelle bestellen, Preis für ein Set mit 6 Karten inklusive Kuverts: 20 CHF. 
Das Buch "Am richtigen Platz" mit Texten von Maksym Butkevych ist für 15 CHF plus Versandkosten ebenfalls bei unserer Geschäftsstelle erhältlich.
Wir empfehlen eine gruppierte Bestellung, so sparen Sie Versandkosten und machen uns eine Freude! info@nestu.org

Redaktion: Jürgen Kräftner, NeSTU, Longo mai in Nyzhne Selyshche
 

Lieber Leser, liebe Leserin
Ihre Spende ist sehr wichtig und tatsächlich unersetzlich, damit wir unsere mutigen und entschlossenen Partner in der Ukraine in ihrer Arbeit unterstützen können. Wir sind dankbar für jede Summe! Unser Spendenkonto finden Sie am Ende dieser Mail.


Aus der ersten kurzen Videomitteilung von Maksym Butkevych, zwei Tage nach seiner Freilassung:
Frei zu sein ist Glück, und es ist der natür­lichste mensch­li­che Zustand, das Wesen des Men­schen. Deshalb sind die Ver­su­che, andere Men­schen zu unter­jo­chen, sie zu Sklaven, zu Waren, zu Objek­ten der Mani­pu­la­tion zu machen, eine Schande und ein Ver­bre­chen von kata­stro­pha­lem Ausmaß. Deshalb erlaube ich mir, meiner Dank­bar­keit eine beschei­dene Bitte hin­zu­zu­fü­gen: Ver­ges­sen wir bitte nicht, die Unter­joch­ten und die Ver­sklav­ten, die in Gefahr sind und deren Würde ständig auf die Probe gestellt wird; tun wir alles, was wir können, um sie zu befreien. Denn solange jemand ein Sklave bleibt, ist niemand von uns wirk­lich frei. Ich danke Euch und Gott segne Euch.
Maksym wurde am selben Tag auch von Präsident Zelenskiy empfangen, und mit ihm gemeinsam etwa 20 weitere VertreterInnen der ukrainischen Zivilgesellschaft. Es war das erste derartige Treffen seit Kriegsbeginn.
Weitere Information zur Befreiung von Maksym gibt es hier.


Über die Natur des russischen Kriegs in der Ukraine und eine langfristige Besetzung
von Anton Schechowzow, ukrainischer Politikwissenschafter in Wien
Text aus seinem Kanal auf X
Über Anton Schechowzow auf Wikipedia

Obwohl ich die Idee, der Ukraine eine NATO-Mitgliedschaft anzubieten, ohne Gebiete außerhalb der nachhaltigen Kontrolle Kiews unter den Schutz von Artikel 5 einzubeziehen, generell unterstütze, sollten wir uns meiner Meinung nach ehrlich sein: Sollte dies tatsächlich geschehen, wird die Ukraine diese Gebiete in absehbarer Zukunft wahrscheinlich nie wieder zurückerlangen.

Der Grund, warum die oben erwähnte Sicherheitsvereinbarung nicht als „Szenario eines geteilten Deutschlands“ bezeichnet werden kann, liegt in dem konzeptionellen Unterschied zwischen der sowjetischen Besetzung von Teilen Deutschlands und der russischen Besetzung von Teilen der Ukraine.

Die sowjetische Besetzung Ostdeutschlands war trotz der sowjetischen Bemühungen um eine langfristige ideologische Transformation überwiegend ein traditioneller Besatzungsfall. Die russische Besetzung von Teilen der Ukraine weicht jedoch dramatisch von klassischen Besatzungsfällen ab, da sie von den Absichten eines Völkermords untermauert wird.

Natürlich beinhalteten sowjetische Besetzungen manchmal Elemente des ethnokulturellen Engineerings (ein prominentes Beispiel war in den baltischen Staaten zu finden), aber die Sowjets hatten nie die Absicht, die deutsche Nation in Ostdeutschland zu zerstören. Und obwohl es den Sowjets gelang, die Ostdeutschen kulturell und ideologisch von den Westdeutschen zu trennen (auch die westlichen Demokratien trugen zu diesem Prozess bei), hörte keine der beiden Gesellschaften auf, deutsch zu sein.

Die heutige russische völkermörderische Besetzung ukrainischer Gebiete zeigt einen ganz anderen Ansatz: Diese Gebiete werden gründlich von allen ukrainischen ethnokulturellen Elementen gesäubert. In vielerlei Hinsicht sind diese Entwicklungen deutlich schlimmer als zu Sowjetzeiten.

Die Sowjet-Ukraine war immer noch die Ukraine, eine ethnokulturelle ukrainische Republik. Im Gegensatz dazu werden die von Russland besetzten ukrainischen Gebiete in die ethnische „russische Welt“ eingegliedert und sogar rechtlich als Regionen ohne jeglichen Bezug zur Ukraine in den russischen Staat eingegliedert.

Alle Lügen Moskaus über eine schöne, russlandfreundliche Ukraine sind genau das, was sie sind – Lügen –, da Moskau keinerlei Absicht hat, irgendetwas Ukrainisches – sei es etwas Russophobes oder Russophiles – auf den von ihm besetzten ukrainischen Gebieten zu behalten.

Das mangelnde Verständnis für den drastischen Unterschied zwischen verschiedenen Besatzungsformen (politisch/wirtschaftlich vs. völkermörderisch) hindert viele Menschen westlich von Wien daran, die Gründe zu erkennen, warum die Ukraine sich so vehement gegen die russische Invasion wehrt.

Die überwältigende Mehrheit der westlichen Gesellschaften hat in jüngster Zeit keine Erfahrung damit gemacht, von einer ausländischen Streitmacht besetzt zu werden, die beabsichtigt, ihren ethnokulturellen Kern auszulöschen. Und die Erfahrung, die sie mit Besatzung gemacht haben, bezieht sich auf Fälle traditionellerer Besatzung, die sich auf politische und wirtschaftliche Aspekte konzentrierte und nicht auf ethnische Planung.

Es wird also kein „Ostdeutschland“ in den von Russland besetzten Teilen der Ukraine geben, und es wird kein ukrainisches Volk geben, das irgendwann in der Zukunft wieder in die wiedervereinigte ukrainische Gemeinschaft integriert werden könnte, da es dieses Volk einfach nicht geben wird.
 

Hudaki in Charkiw und Kyiv
Auf den Fotos oben bekommt Ihr ein paar Eindrücke von der Reise von Hudaki nach Charkiw vom September. 30km südlich der Grossstadt haben unermüdliche Freiwillige für geflüchtete Familien aus dem umkämpften Gebiet weiter nördlich und aus dem Donbas, auch aus Mariupol, eine relativ komfortable und vor allem friedliche Unterkunft eingerichtet. Im Bild mit unserem Geiger Mischa, der Diakon Serhiy Leonidowytsch, eine wahrhaft eindrückliche Persönlichkeit. Seinen Lebensunterhalt verdient er für sich und seine Familie an einer Tankstelle in Charkiw.

Fotos unten: Unser Solidaritätskonzert in Kyiv für eine Einheit der ukrainischen Armee war auch ein besonderes Erlebnis. Etwa 1500 vorwiegend junge Leute, kein Alkohol aber dafür eine tolle Stimmung. Rein emotional ist dies schwer zu beschreiben. Eines wird auch hier wieder klar, die Ukraine gibt sich nicht auf.


Direktgepresster Apfelsaft aus Transkarpatien für Kinder in der Ostukraine

Die Mostsaison 2024...
... ist zu Ende. Sie war nicht einfach. Die feuchte Hitze des vergangenen Sommers hat die Rekordernte zu einem ziemlichen Desaster gemacht, die Äpfel fielen massenhaft faul von den Bäumen. Die Industrie hat diese Äpfel dennoch zu einem sehr hohen Preis aufgekauft, für Fallobst minderer Qualität wurden zuletzt bis zu 30 Rappen/kg bezahlt! Wir sammeln und sortieren selber und haben immerhin ein paar tausend Liter direkt gepressten Apfelsafts abgefüllt. Vor der Saison haben wir zwei Lastwagenladungen an unsere Freunde von den Angels of Salvation gespendet. Was sie damit gemacht haben, ist in der kurzen Video (oben) zu sehen.
Fotos unten: Auch beim Jugendgästehaus SargoRigo in Nyzhne Selyshche stehen ein paar alte Apfelbäume mit der begehrten einheimischen Sorte Ferkovanya (süss-säuerlich mit hohem Polyphenolgehalt). Im Bild rechts Juri, Vater von 5 Kindern aus Sumi, in der Nordukraine. Nachdem die Schule, in der er noch vor kurzem arbeitete, von einer russischen Rakete getroffen wurde, ist er mit seiner ganzen Familie nach Nyzhne Selyshche umgesiedelt, wo Freunde auf ihn warteten. Er ist ein praktisch denkender und handelnder Mensch, er hat sogar seine geliebte Hühnerzucht mit auf die über 1000km lange Reise genommen.

Kontakt zu NeSTU:

Salome Stalder - Martin, Dipl Forst-Ing. ETH, Mürgstrasse 6, 6370 Stans

E-Mail: info(at)nestu.org. Natel: 078 770 23 43
Spendenkonto NeSTU:

Raiffeisenbank Nidwalden, 6370 Stans
IBAN: CH69 8080 8008 0940 4940 2
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Jürgen Kräftner