Rundbrief 22.10.2024

Link zum Rundbrief

Liebe Freundinnen und Freunde von NeSTU

Unser Freund, der ukrainische Menschenrechtsaktivist Maksym Butkevych ist am vergangenen Freitag Abend im Rahmen eines Kriegsgefangenenaustauschs freigekommen. Für uns, seine Familie und seinen Freundeskreis sind das die glücklichsten Momente seit Kriegsbeginn. Der Austausch kam für uns alle überraschend. Maksym selbst dachte nach eigenen Worten zunächst, dass er in ein anderes Straflager verlegt würde. Gestern hat er sich erstmals in einer kurzen Video "von ganzem Herzen" bei allen bedankt, die ihn während seiner Gefangenschaft unterstützt und seine Freilassung gefordert haben. Zugleich bittet er, all jene nicht zu zu vergessen, die weiterhin in russischer Kriegsgefangenschaft unter häufig schrecklichen Bedingungen eingesperrt sind. 
Maksym selbst macht in den kurzen Videos einen vergleichsweisen fitten Eindruck: abgemagert, aber glücklich, etwas ungläubig ob der unerwarteten Befreiung. Er befindet sich derzeit in einem staatlichen Rehazentrum. Wir hoffen, ihn bald treffen und in die Arme schliessen zu können.

Das besondere an diesem Austausch von jeweils 95 ukrainischen und russischen Kriegsgefangenen war die Freilassung von über 20 in Russland zu langen, zum Teil lebenslangen Haftstrafen verurteilten ukrainischen Soldaten. Auch sie waren die Opfer von Justizparodien wie im Falle von Maksym. Das gibt zahlreichen Männern und Frauen Hoffnung, die  - manche bereits seit Frühjahr 2022 - weiterhin in Russland eingesperrt sind. Insgesamt wurden seit Kriegsbeginn 3767 Männer und Frauen aus russischer Kriegsgefangenenschaft befreit.

PS für unsere Leser und Leserinnen:
Eigentlich hatten wir für das vergangene Wochenende bereits einen umfangreichen Rundbrief vorbereitet... Sie bekommen also bald wieder Post mit Berichten von unseren Projekten, Veranstaltungs- und Lesetipps von NeSTU.
Redaktion: Jürgen Kräftner, NeSTU und Longo mai Ukraine.

https://www.youtube.com/watch?v=L3sQIWYryus
Ich bin zuhause! Ich kann es nicht glauben!

Obwohl Maksym sicher nicht Teil irgendeines ukrainischen Establishments ist, wurde seine Freilassung auch von Präsident Zelenskiy in seiner abendlichen Videoansprache besonders erwähnt. Hier eine kurze Video des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU.


Am richtigen Platz
Dies ist der Titel eines Buchs mit Texten des Menschenrechtsaktivisten und Pazifisten Maksym Butkevych, der sich im Februar 2022 freiwillig zur Armee gemeldet hat und im Juni 2022 in Kriegsgefangenschaft geraten war. "Am richtigen Platz" ist kurz vor der Freilassung Maksyms beim Anthea-Verlag in Berlin erschienen.
Butkevych hat sich seit Jahrzehnten stets für Menschen eingesetzt, deren elementare Rechte vom Staat missachtet werden oder die Opfer von Hass und Gewalt sind. Seine vielfältigen Texte aus über 20 Jahren geben einen Eindruck über seine kritische und selbstkritische Denkweise und zugleich einen differenzierten Blick auf brennende Fragen der ukrainischen Gesellschaft.

Sie können es bei der Geschäftsstelle von NeSTU oder direkt beim Verlag bestellen: 12,5 x 19 cm, Paperback,140 Seiten, 15.-CHF 

Hier ist das Vorwort für "Am richtigen Platz" von Oleksandra Matwijtschuk, ukrainische Menschenrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin.


Oleksandra Matwijtschuk, Vorsitzende des Center for Civil Liberties, das 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
 
Vor Ihnen liegt eine Sammlung von Texten und Interviews des ukrainischen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Maksym Butkevych. Die Texte stammen aus verschiedenen Jahren und beziehen sich auf unterschiedliche Anlässe, Länder und Personen, aber immer geht es um die Verteidigung der Marginalisierten und die Wahrung der Menschenwürde.
 
Zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Publikation befindet sich Maksym bereits seit zwei Jahren in russischer Gefangenschaft. Er wurde aufgrund erfundener Anschuldigungen zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Russische Föderation ignoriert demonstrativ die Normen des Völkerrechts und die Beschlüsse internationaler Organisationen, sodass Maksym keine anderen Mittel zur Verfügung stehen, um sich zu verteidigen, als seine Worte und seine Haltung. Und genau diesen Worten und dieser Haltung ist das vorliegende Buch gewidmet. Ich möchte Ihnen den Autor ein wenig vorstellen, der dies im Moment nicht selbst tun kann.
 
Ich kann mich nicht mehr an den Moment erinnern, als ich Maksym Butkevych kennengelernt habe. Aber es kommt mir so vor, als würde ich ihn schon so lange kennen, wie ich denken kann. Im Rahmen seiner Menschenrechtsarbeit hat er sich dem Schutz der am meisten benachteiligten Gruppe von Menschen verschrieben, die leider in keiner Gesellschaft je viel Empathie erfahren hat: Geflüchtete, Asylsuchende, Migrant*innen. Mit seinem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit setzte er sich unermüdlich für die Menschenwürde ein. Das erlaubte ihm, auch kleinste Anzeichen von Machtmissbrauch oder Fremdenfeindlichkeit zu erkennen. Nie schreckte er davor zurück, sich dagegen zu stellen. Auch wenn er von der Mehrheitsgesellschaft nicht verstanden oder unterstützt wurde.   
 
Maksym ist ein sehr tiefgründiger Mensch. Einmal erwähnte er in einem Gespräch sein theologisches Selbststudium. Gleichzeitig war er unter Antifaschist*innen und Anarchist*innen zu Hause. Es war spannend, mit ihm sowohl über philosophische Konzepte als auch über praktische Probleme der Menschenrechtsarbeit zu diskutieren. Kein Wunder, dass er Mitbegründer von Hromadske Radio wurde, dessen Motto «Hört zu. Denkt nach» er beispielhaft verkörpert. Maksym kann zuhören, wie kaum ein anderer. Man möchte sich ihm anvertrauen.
 
Als tatkräftiger Mensch ist er jederzeit bereit, sich einzusetzen und Themen voranzutreiben. So arbeiteten wir gemeinsam an einem Menschenrechtsplan für das Parlament, entwarfen Strategiepapiere im Kampf gegen die Straflosigkeit von Folter durch die Polizei und nahmen an Demonstrationen für Meinungs- und Pressefreiheit teil. Ich kann mich an keine einzige wichtige Aktion erinnern, an der er nicht beteiligt war.
 
Als Reaktion auf das brutale Durchgreifen gegen Student*innen auf dem Maidan im November 2013 hat unser Team die Initiative Euromaidan SOS ins Leben gerufen. Wir machten es uns zur Aufgabe, landesweit allen Menschen, die für ihre Beteiligung an den Protesten belangt werden sollten, Rechtshilfe zur Verfügung zu stellen. Auch hier war Maksym unter den ersten, die uns unterstützten. Als Journalist fand er die Zeit, für Euromaidan SOS täglich über Misshandlungen, Folter und willkürliche Verhaftungen zu berichten. Als Mensch motivierte er die Freiwilligen mit Witzen und Selbstironie. In diesen schwierigen Zeiten erinnere ich mich sehr gerne an seinen Humor.
 
Niemand von uns war auf den Krieg vorbereitet. Aus heutiger Sicht erscheint es offensichtlich, dass Russland nach dem Sturz des pro-russischen Regimes von Janukowytsch eine Invasion beginnen würde, um uns auf unserem Weg zur Demokratie aufzuhalten. Aber als ich im Februar 2014 unserem Koordinator schrieb, dass es so aussehe, als seien russische Soldaten als «grüne Männchen» ohne Hoheitszeichen auf der Halbinsel gelandet, schrieb er mir überrascht zurück: «Lesja, wovon redest du?». Ich verstand damals selbst nicht, was da vor sich ging.
 
Zu Maksyms wichtigsten Grundsätzen gehört Solidarität. Als die russische Besatzungsmacht die ersten politischen Gefangenen auf der Krym festnahm, gründete er das «Solidaritätskomitee für die Geiseln des Kremls». Noch heute erinnere ich mich an eine Aktion, bei der wir am Geburtstag von Hennadij Afanasjew, der vom FSB als Terrorist verhaftet, gefoltert und verurteilt worden ist, im strömenden Regen eine große Torte durch die Straßen trugen. Für Maksym bestand kein Zweifel daran, dass wir unseren Leuten durch den kompromisslosen Kampf für sie die Kraft gaben, bis zu ihrer Befreiung durchzuhalten.
  
Maksym glaubt an das Beste im Menschen. Deswegen hat er viele Jahre die Entstehung des internationalen Festivals für Dokumentarfilm und Menschenrechte, Docudays UA, unterstützt. Von der Festivalbühne rief er einmal zu einer Solidaritätsaktion für den zu Unrecht inhaftierten Regisseur, Oleg Sentsov, auf. Es ist bittere Ironie, dass die Teilnehmer*innen des Filmfestivals nur wenige Jahre später Schilder mit der Aufschrift #FreeMaksymButkevych hochhalten sollten.
 
Nachdem er bereits in Gefangenschaft geraten war, hatte ich die Gelegenheit, seine Eltern kennenzulernen. Seine Mutter und sein Vater, echte Intellektuelle aus Kyjiw, kämpfen unermüdlich für die Freilassung ihres Sohnes und ertragen die ihnen auferlegten Strapazen mit Würde. Kaum vorstellbar, was sie das fast sechsmonatige «Verschwinden» von Maksym gekostet haben mag, nachdem er in einem Scheinprozess zu 13 Jahren Lagerhaft mit strengen Haftbedingungen verurteilt wurde.
 
Die Anklage war offenkundig an den Haaren herbeigezogen. Die Handlanger des Kremls haben sich nicht einmal besondere Mühe gegeben. Maksym wurde beschuldigt, an einem Tag Kriegsverbrechen gegen Zivilist*innen in der Region Luhansk begangen zu haben, an dem er sich nicht einmal dort aufhielt. Sein Anwalt legte dem Richter umfassende stichhaltige Beweise dazu vor. Doch das Urteil kam «von oben», weswegen dies niemanden interessierte.
 
In meiner Nobelpreisrede habe ich mich auf Maksym bezogen. Ich kann mich sehr mit seiner Antwort auf die Frage identifizieren, warum er sich als Antimilitarist nach der russischen Invasion den ukrainischen Streitkräften angeschlossen hat. Ich weiß sie auswendig. Angefangen mit: «Es sind tragische Zeiten», bis hin zu: «Hier bin ich am richtigen Platz».
 
Dein Platz ist auch bei uns, Maksym. Wir lieben dich. Wir glauben an dich. Wir kämpfen für dich. Wir warten auf dich.
 
[Aus dem Ukrainischen von Irina Bondas und Camilla Elle für Gegensatz Translation Collective.]

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Jürgen Kräftner